Die katholische Kirchenmusik im Tschechoslowakischen Rundfunk 1927

 

Eckhard Jirgens (Schwelm)

 

Die deutsche Ausgabe der tschechoslowakischen Rundfunkzeitschrift „Radiojournal“ veröffentlichte in Heft Nr. 48 / 1927 (5. Juni 1927) auf Seite 18 folgende Kurzmitteilung:

Die Prager Kirchenkonzerte mussten auf ein Verbot des erzbischöflichen Konsistoriums eingestellt werden."

In der umfangreichen, zum zehnjährigen Bestand des Tschechoslowakischen Rundfunks publizierten Chronik von Anna Jarmila Patzaková wird auf diesen Vorgang ebenfalls Bezug genommen. Hier heißt es:

Vysílání duchovní hudby, které zavedl rozhlas do nedělních a svátečních dopoledních programů zapojením kostelů karlínského a smíchovského, bylo v Praze přerušeno zákazem pražské konsistoře. Poněvadž se zákaz týkal jen chrámů pražské diecése, vypomohl si rozhlas tím, že začal vysílat chrámovou hudbu soudobě z Brna, z kostela sv. Petra a Pavla, vždy v neděli od 9.00-10.00. Hudba chrámovou tu řídil Ant. Hromádka, na varhany hrál prof. Bohumil Hromádka. Kromě hudby z kostelů zapojoval Radiojournal pravidelně varhanní koncerty Bedřicha Wiedermanna z Obecního domu a z Brna ze Stadionu varhanní koncerty Eduarda Treglera."[1]

 

Wie diesen Notizen zu entnehmen ist, bezog sich dieses Verbot lediglich auf die Rundfunk-Übertragungen geistlicher Musik aus den katholischen Kirchen in der Erzdiözese Prag und betraf daher nicht Veranstaltungen geistlicher Musik in der Diözese an sich. Nicht ganz deutlich wird allerdings, welchen Umfang dieses Verbot hatte: War die Sakralmusik insgesamt betroffen oder wollte man nur gewisse Bereiche wie Orgelmusik oder den Choralgesang unterbinden. Ebenfalls ungewiss sind die Beweggründe, die das Prager Konsistorium zu diesem Schritt veranlasst haben könnten. Waren es theologische Bedenken, die das Rezipieren von Sakralmusik in banalen Räumen und Situationen als Blasphemie erscheinen ließen? Waren es ästhetische Vorbehalte, die katholische Musica Sacra angesichts der jämmerlichen Empfangsresultate, die den damaligen rundfunktechnischen Entwicklungsstand noch kennzeichnete, nicht mehr herabwürdigen und entstellen lassen zu wollen? Schließlich stellt sich auch die Frage, was sich die Prager Diözesanleitung von einem solchen, für den Rundfunk doch bereits problemlos zu umgehenden Verbot, versprach. Erhoffte sie sich nach diesem Alleingang eine Solidarisierung der übrigen tschechoslowakischen Bistümer?

Eine Durchsicht der damaligen Rundfunkprogramme zur weiteren Erhellung der Hintergründe ergab folgendes Bild:

Die Prager Sonntagskonzerte mit geistlicher Musik wurden zwischen 9 und 10 Uhr in unregelmäßigem Wechsel aus der Kreuzherrenkirche und der Smíchover St.-Wenzels-Basilika gesendet. Die Konzertprogramme umfassten das gesamte Spektrum der Kirchenmusik, wobei ein Akzent auf der Orgelmusik und der Orchestermesse zu beobachten ist. Der letzte Übertragungstermin aus der Wenzelsbasilika fand am Karsamstag 1927 (16. April), derjenige aus der Kreuzherrenkirche am darauf folgenden Ostersonntag (17. April) statt. Es folgte nun eine mehrere Monate währende Phase, in der man den Sendeplatz für geistliche Musik entweder leer ließ (d.h. der Sender begann sein Tagesprogramm erst später) oder anderweitig nutzte (Übertragung von Festveranstaltungen, Kundgebungen u.ä.). Will man den in den Rundfunkprogrammen enthaltenen Angaben Glauben schenken, so müsste das Prager Konsistorium seinen Beschluss also bereits Ostern 1927 gefasst haben, nicht jedoch erst Anfang Juni, wie es das Erscheinungsdatum der Notiz im „Radiojournal“ nahelegt. Funkstille bzw. andere Nutzung des Sendeplatzes ab Ostermontag 1927 belegen, dass das Prager Konsistorium ein generelles Übertragungsverbot verhängt haben muss; andernfalls hätte der Rundfunk mit einiger Sicherheit diejenigen Genres noch weiter übertragen, die diesem Verbot nicht zum Opfer gefallen waren.

Ab Sonntag, dem 21. August 1927, ist der besagte Sendeplatz in Prag wieder überwiegend mit kirchenmusikalischen Veranstaltungen belegt. Aber es handelte sich dabei ausschließlich um Übernahmen vom Sender Brünn.

Die Situation beim Sender Brünn stellt sich so dar, dass bis zum 10. Juli 1927 kein fester Sendeplatz für sonntägliche Kirchenkonzerte bestand. Die Sendetätigkeit begann sonntags entweder überhaupt erst um 10 Uhr (gelegentlich sogar noch später), oder man übertrug Programme unterschiedlichen Inhalts, worunter sich nur in Ausnahmefällen auch einmal ein Kirchenkonzert aus Prag befand. Ab dem 17. Juli führte Brünn reguläre Beiträge mit Sakralmusik ein, wobei es sich überwiegend um Orgelmusik und Werke für kammermusikalische Besetzungen handelte.[2] Dieser Sendeplatz wurde im Weiteren unter den Bezeichnungen „Kirchenmusik“ bzw. „Orgelmusik“ beibehalten und - wie oben dargestellt - häufig auch vom Sender Prag übernommen. In den Programmheften sind zwar detaillierte Angaben über die Interpreten und die zum Vortrag gelangenden Werke enthalten (die Orgelmusik war obligatorischer Bestandteil aller Aufführungen), doch fast immer fehlen Hinweise auf den Aufführungsort. Lediglich für das Konzert am 11. September ist als Ort der „Konzertsaal des Stadion“ vermerkt. Die Kirche „St. Peter und Paul“ wird also in keinem einzigen Fall erwähnt, so dass dieser von Patzaková gegebene Anhaltspunkt von der rundfunklichen Primärliteratur her weder bestätigt noch angefochten werden kann.

Verfolgt man die Entwicklung anhand der Sendeprogramme weiter, so gab es alsbald auch im Prager Rundfunk wieder Eigenproduktionen mit geistlicher Musik, und zwar erstmals am 30. Oktober 1927. Die Konzerte fanden nunmehr abwechselnd in Prag und Brünn, teilweise auch in Pressburg, statt und wurden von den jeweils anderen Sendern übernommen. In fast allen Veranstaltungen nahm die Orgelmusik einen herausragenden Platz ein. Ab und zu ist im Prager Sendeprogramm als Veranstaltungsort der „Smetanasaal des Repräsentationshauses“ genannt, dessen Orgel somit verhältnismäßig oft im Rundfunk erklang. Als Mitwirkende werden hier - neben namhaften Instrumental- und Vokalsolisten - häufig auch die Mitglieder des Chores der Smíchover St.-Wenzels-Basilika erwähnt.

Neben diesen Konzerten übertrug der Rundfunk in unregelmäßigen Abständen Gottesdienste der evangelischen und hussitischen Konfession, in deren Verlauf ebenfalls Kirchenmusik aufgeführt wurde.

Eine zur weiteren Klärung dieser Fragen - insbesondere auch zur des Dauer des Verbotes - an die Pressestelle der Tschechischen Bischofskonferenz gerichtete Bitte um Übermittlung des vollständigen Verbotstextes ergab folgende Antwort:

 

 

 ČESKÁ BISKUPSÁ KONFERENCE

                        160 00 Praha 6, […]



 

 

V Praze dne 2.října 2000

Č.j.: DH/166/2000   

 

Vážený pane,

 

                Váš požadavek o zjištění plného zněni textu zákazu vysilání cirkevních koncertů v rozhlase, které mělo vydat v roce 1927 Arcibiskupství pražské, jsme postoupili Státnímu ústřednímu archivu v Praze, neboť veškerá korespondence Arcibiskupství z tohoto období je již uložena v tomto archivu. S přislušným pracovníkem tohoto archivu, který je správcem archivního fondu Arcibiskupství pražského p. Dr. Čumlivski (...) bylo dohodnuto písemné vyřízení Vašeho požadavku. Dr. Čumlivski nás však upozornil, že podstatná část archivu Arcibiskupství pražského byla v období komunismu nuceným správcem Arcibiskupství pražského nenávratně zničena.

S přátelským pozdravem

 

 

Mgr. Daniel Herman         

tiskový mluvčí ČBK        

Übersetzung des Briefs:

Prag, den 2. Oktober 2000

 

Sehr geehrter Herr,

Ihr Ersuchen um Mitteilung des vollständigen Textes über das Verbot einer Ausstrahlung kirchlicher Konzerte im Rundfunk, das im Jahr 1927 vom Erzbistum Prag verhängt worden sein soll, haben wir an das Staatliche Zentralarchiv in Prag geleitet, da die gesamte Korrespondenz des Erzbistums aus diesem Zeitraum in diesem Archiv aufbewahrt wird. Mit dem zuständigen Mitarbeiter dieses Archivs, dem Leiter der Archivbestände des Erzbistums Prag, Herrn Dr. Čumlivski, wurde eine schriftliche Beantwortung Ihres Ersuchens vereinbart. Dr. Čumlivski hat uns jedoch darauf hingewiesen, dass während der kommunistischen Ära ein erheblicher Teil des Prager erzbischöflichen Archivs vom Zwangsverwalter des Prager Erzbistums unwiederbringlich vernichtet wurde.

Mit freundlichen Grüßen

Mgr. Daniel Herman

Pressesprecher der Tschechischen Bischofskonferenz

 

Eine mündliche Bestätigung des zuständigen Archivars betreffend die Vernichtung aller Unterlagen aus diesem Zeitraum erfolgte am 18. Mai 2001.

Ob in den Archiven des Tschechischen Rundfunks Schriftzeugnisse zu den Vorgängen im Jahre 1927 erhalten sind, wird sich anhand weiterer Recherchen herausstellen.



[1] Patzaková, Anna Jarmila et al., Prvních deset let československého rozhlasu [Die ersten zehn Jahre des Tschechoslowakischen Rundfunks], Praha 1935, Teil I, S. 214. [Übersetzung: Die Ausstrahlung von geistlicher Musik, die der Rundfunk an Sonn- und Feiertagen vormittags mittels einer Verbindung zur Karlíner und Smíchover Kirche durchführte, wurde in Prag durch ein Verbot des Prager Konsistoriums unterbrochen. Da das Verbot lediglich für die Kirchen der Prager Diözese galt, behalf sich der Rundfunk damit, zu den gleichen Zeiten Kirchenmusik aus der Kirche St. Peter und Paul in Brünn zu übertragen, und zwar jeweils sonntags von 9 - 10 Uhr. Die Kirchenmusik wurde hier von Ant. Hromádka geleitet, die Orgel spielte Prof. Bohumil Hromádka. Abgesehen von der Musik aus Kirchen produzierte das Radiojournal regelmäßige Orgelkonzerte mit Bedřich Wiedermann aus dem Repräsentationshaus sowie mit Eduard Tregler aus dem Brünner Stadion.]

[2] Die erste Sendung wurde im „Radiojournal“, Heft 3/1927, wie folgt angekündigt:

10.00-11.00 Kirchenmusik, aufgeführt von den Hörern des musikwissenschaftlichen Seminars (Prof. Dr. V. Helfert) d. Masaryk-Universität: Ph. C. Štědroň, Obrdlík u. Vetterl, Mitw. Jedenáctý, Mitglied d. Oper d. Nat.Theaters in Brno. Programm: 1. Einleitender Vortrag über die Kirchenmusik d. 18. Jahrh. (K.Vetterl). 2.Bassani: Kantate für Solostimme mit Violin- u. Orgelbegleitung nach der in d. St. Jakob-Kirche erhaltenen Handschrift. 3. Corelli: Triosonate für 2 Geigen u. Orgel.“